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TT-blog D’Arienzo 1935–1939 – Begleitkommentar von Christian Tobler

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D’Arienzo – 1935–1939 Die 116 Aufnahmen mit seinem zweiten Orchester sind ein Schlüsselwerk tanzbaren Tango Argentinos

Wäre Carlos Gardel – der populärste Exponent des melancholischen und erfolgreichen, aber untanzbaren Tango Canción – 1935 nicht bei einem Flugzeugabsturz umgekommen; hätte Juan D’Arienzo keine zwei Wochen später nicht ein Revival jener fröhlicheren Tangoform angezettelt, wie sie früher populär war – die Época de Oro, die goldenen Vierziger, hätte vermutlich nie stattgefunden. Und wir würden heute kaum Tango Argentino tanzen. D’Arienzos Revival hat die Massen nach Jahren der Stagnation, bei der natürlich auch die globale Wirtschaftskrise eine Rolle spielte, ab Mitte 1935 wieder zum Tanzen gebracht und Tango Argentino damit zu einem beispiellosen kommerziellen wie kreativen Höhenflug verholfen.

Die Repertoire-Bedeutung dieser Reedition Juan D’Arienzo hat zeitlebens sehr darunter gelitten, dass viele virtuose und evolutionäre Exponenten des Tango Argentino diese großartige Leistung und ihren Macher belächelt haben. Troilo – selbst einer der innovativsten Exponenten der 1940er Jahre – verhielt sich nie so borniert. Er vertrat stets die Ansicht, dass die kreative und künstlerische Vielfalt der 40er ohne D’Arienzos Coup von 1935 nicht hätte entstehen können. Daher hat er seinen Heißspornen jedesmal die Leviten gelesen, wenn sie über D’Arienzo lästerten. Tausende von Musikern standen in den 40ern in Buenos Aires und Montevideo nur in Brot und Lohn, weil D’Arienzo ab 1935 das Fundament für diesen Boom legte.

Auch heute – 80 Jahre nach diesem Wendepunkt im Tango Argentino – gibt es Akademiker in Argentinien und Tänzer weltweit, die versuchen D’Arienzo kleinzureden und damit Kulturgeschichtsklitterung betreiben. Dabei bildet dieses Orchester das Rückgrat jeder guten traditionellen Milonga. Vielleicht braucht es eine gewisse Feinfühligkeit und etwas Fantasie, um aus den meist schlechten Restaurationen von D’Arienzos zweitem Orchester jene großartige kreative Leistung herauszuhören, welche die Massen damals magnetisiert und musikalisch wie tänzerisch Weichen gestellt hat.

Nicht viele Orchesterleiter schafften es, in viereinhalb Jahren im Studio 116 Aufnahmen – ohne die zwei in TangoTunes Reedition nicht enthaltenen Polkas sind es 114 – zu realisieren, die alle tanzbar und auf kreativ hohem Niveau sind: in Bezug auf Komposition und Text, Arrangement und Spielweise.

Diese Leistung allein entlarvt jeden Kritiker, der D’Arienzo in dieser Phase seiner Schaffenskraft Mediokrität zu unterstellen versucht.

Jahrzehntelange Unvollständigkeit beendet Mit Ausnahme der LPs und CDs des japanischen Labels CTA und argentinischer Bootlegs davon ist eigenartigerweise seit mehreren Jahrzehnten keine vollständige Reedition dieser Aufnahmen erhältlich, was die Rezensionsgeschichte natürlich negativ beeinflusst hat. Sogar viele Zeitzeugen haben im Verlauf der Jahrzehnte allmählich vergessen, was D’Arienzo in der zweiten Hälfte der 30er geleistet hat und wie faszinierend diese Formation damals live geklungen hat. Es ist ein Erlebnis, sich diese 114 Tonkonserven ohne Pause chronologisch anzuhören. Das lässt einen nicht nur viele Details hören, sondern auch manche Zusammenhänge erkennen. TangoTunes hofft sehr, dass diese Reedition mithilft, eine Wende in der Wahrnehmung von D’Arienzos bedeutendster kreativer Phase einzuleiten.

Dabei gibt es in dieser 54 Monate dauernden kreativen Parforce-Tour durchaus eine Entwicklung und Steigerung. D’Arienzo startete recht verhalten mit vorwiegend instrumentalen, aber modern und ganz für Tänzer arrangierten Guardia–Vieja–Kompositionen und findet erst nach über einem Jahr – Biagi sitzt bereits seit Monaten am Piano – zu jenem unverwechselbaren, druckvollen Klangbild, das agile Tänzer augenblicklich in Ekstase versetzt und ihnen ein Grinsen ins Gesicht zaubert. Bis Mitte 1937 spielte das Orchester zudem ausgesprochen viele Valses ein, die vom Publikum begeistert angenommen wurden.

El rey del compás Debatten darüber, was D’Arienzo in diesen viereinhalb Jahren musikalisch genau tut, führen nach wie vor zu heftigen Diskussionen. Seine musikalische Duftmarke, dieser besonders taktstarke Sound hat Ähnlichkeit mit unserem Herzschlag: kräftig, dominant und kaum aufzuhalten. Die einen vertreten heute die Ansicht, D’Arienzo sei dazu vom von De Caro etablierten Viervierteltakt zum Zweivierteltakt zurückgekehrt. Andere meinen, D’Arienzo habe zum Vierachteltakt gewechselt.

Darüber zu streiten ist müßig, weil das in erster Linie eine Frage der Notation auf Notenblättern ist. D’Arienzo hat sich lediglich ganz auf die Bedürfnisse von Tänzern konzentriert. Weil er erkannt hat, dass Tango Argentino nur dort Mainstream sein kann, wo Musiker kompromisslos auf die Bedürfnisse von Tänzern eingehen. Dasselbe Stück lässt sich grundsätzlich im Zweiviertel-, Vierviertel- oder Vierachteltakt notieren, auch wenn meist eine Variante mehr Sinn ergibt. Musiker, die gewillt sind, sich ganz auf die besonderen Bedürfnisse von Tänzern einzulassen, wünschen sich natürlich eine Notation, die ganz darauf ausgerichtet ist. Tänzer wiederum wissen gar nicht, wie Musik notiert ist. Sie hören und bewegen sich im Tango Argentino im Schema dos por quatro: links – und – rechts – und… Musikern lässt sich dieses Schema beim Musizieren am besten vermitteln, wenn die Notation im Zweivierteltakt vorgenommen wird.

D’Arienzo wird zu Recht El rey del compás genannt: König des Taktschlags.

Gespielt wurden sämtliche Instrumente vorwiegend staccato. Man könnte auch sagen, der Takt dominiert – oft sogar die Melodie und nicht nur den Rhythmus. Dazu setzt die erste Geige jedoch immer wieder ein Gegengewicht. Mit Melodien, die ausschließlich auf der tiefsten Saite gespielt werden, was mehr nach Bratsche als Violine klingt: das Spiel mit der cuarta cuerda.

Wer D’Arienzos Supersound aus diesen Jahren etwas Nervöses oder Schmutziges nachsagt, hat nie tempokorrigierte und gut gemachte Restaurationen davon hören dürfen. Von dieser Mär werden wir Tänzer uns mit dieser Reedition verabschieden. Die Musiker spielen ausgesprochen präzise und inspiriert. Sie bieten Tänzern permanent einen spielerischen Dialog – unter anderem mittels Synkopen, aber auch mit unzähligen Nuancen der Spielweise zwecks weiterer Akzente. Und ganz wichtig: Zwischen den Noten ist immer viel Luft, was die Orientierung im musikalischen Geschehen erleichtert.

Ja, diese Formation musiziert sehr kommerziell. So wie viele andere Orchester in diesen Jahren. Nur waren nicht alle so erfolgreich wie D’Arienzo. Aber alle Musiker D’Arienzos musizieren dabei stets auf hohem Niveau. Diese Aufnahmen bieten Professionalität pur – rundum. Aber eben: In allen Details und der ganzen Faszination hörbar wird das erst mit guten Restaurationen.

Die Kreativen dieses Gran Orquestas Auf die vielen Anekdoten über dieses Orchester, wie z. B. die Gründe für die Trennung von Biagi gehen wir hier aus Platzgründen nicht ein. Zweimal in diesen Jahren wurde der Pianist ausgetauscht.

Von 2. Juli bis 12. Dezember 1935 saß Lidio Fasoli im Aufnahmestudio am Piano – 10 Aufnahmen.

Von 31. Dezember 1935 bis 22. Juni 1938 saß Biagi am Piano – 66 Aufnahmen. Dessen Spielweise sollte für D’Arienzo nach seinem Abgang für immer jene Richtschnur bleiben, an der jeder neue Pianist gemessen wurde.

Von 8. Juli 1938 bis 22. Dezember 1939 saß Juan Polito am Piano – 40 Aufnahmen.

Von 2. Februar bis 12. Dezember 1938 umfasste das Gran Orquesta D’Arienzo acht Musiker.

Kontrabass Rodolfo Duclós

Bandoneon Domingo Moro, Faustino Taboada, Juan Visciglio

Violine Alfredo Mazzeo, León Zibaico, Domingo Mancuso

Von 31. Dezember 1935 bis 22. Dezember 1939 wurde das Orchester aufgestockt und umfasste elf Musiker.

Bandoneon-Verstärkung José della Roca, Adolfo Ferrero

Violinen-Verstärkung Francisco Mancini

Drei Sänger haben für dieses Orchester gearbeitet. Mit Walter Cabral entstanden 1936 vier, mit Enrique Carbel 1937 eine einzige und mit Alberto Echagüe 1938/39 27 Aufnahmen.

Gemäß manchen Quellen hat D’Arienzo im Jahr 1939 mit zwei Kontrabassisten gearbeitet. Diese Information ließ sich aber bis heute nicht verifizieren. Neben D’Arienzo selbst waren Biagi als Pianist plus Echagüe als Sänger für sein zweites Orchester prägend. Beide haben der Combo zu noch mehr Modernität und Popularität verholfen.

D’Arienzo war damals der Megastar Einzelne Aufnahmen hervorzuheben macht kaum Sinn. Dazu sind zu viele dieser 114 Aufnahmen Dreiminutenpreziosen mit Unsterblichkeitsanspruch. Und jeder Musikliebhaber, jeder Tänzer, jeder TJ hat etwas andere Präferenzen.

Fakt ist: D’Arienzo war mit diesen Aufnahmen am Markt Monat für Monat dermaßen erfolgreich, dass die Plattenfabrik von RCA Victor in Buenos Aires es oft über Wochen hinweg nicht schaffte, genügend Schellacks zu pressen.

Daher verkauften Plattenläden D’Arienzos zeitweise nur an Käufer, die bereit waren, gleichzeitig eine weitere Schellack eines anderen Orchesters zu kaufen. D’Arienzos Erfolg wurde so groß, dass es sich gegen Ende der 30er-Jahre kaum ein Tango-Orchester erlauben konnte, die Impulse dieses Megatrends nicht in der einen oder anderen From in die eigene Arbeit einfließen zu lassen.

Der Erfolg D’Arienzos basierte in diesen Jahren auch darauf, dass er in allen drei Sparten erfolgreich agierte, welche der Musikmarkt in Buenos Aires damals bot. Neben dem Plattenvertrag mit RCA Victor Argentina war es D’Arienzo gelungen, einen Vertrag mit der 1935 in Buenos Aires eröffneten Radiostation El Mundo – Senderkürzel LR1 – zu schließen, welche in Buenos Aires bald recht dominant war und über sehr moderne und besonders großzügig ausgestattete Studios verfügte. Zudem war D’Arienzo als Hausorchester in einem der renommiertesten Nachtclubs der Stadt engagiert, dem Cabaret Chantecler. Diese drei Vermarktungsschienen garantierten D’Arienzo Tag für Tag Omnipräsenz in der Öffentlichkeit der Megalopole Buenos Aires. In diesen Jahren war D’Arienzo daher pausenlos in aller Munde.

Diesen heftigen Druck der Straße haben Anhänger von De Caros Evolution nicht dem Publikum sondern D’Arienzo ganz persönlich angelastet. Erst Ende 1937, Anfang 1938 gelang es Laurenz mit Arrabal und Troilo mit Comme il faut, mit diesen fulminanten Aufnahmen erste Vorboten eines Gegenentwurfs für tanzbaren Tango Argentino in die Welt zu setzen und damit D’Arienzos Rolle als Innovator und Erneuerer in Frage zu stellen, weil er schlussendlich doch ein Stück weit rückwärts gewandt war. Da D’Arienzo sich in diesen Monaten aber nochmals steigerte und mit Echagüe einen ausgezeichneten Sänger engagierte, der perfekt zum drive und punch des Orchester passte, gelang es D’Arienzo trotzdem, bis Ende 1939 seine Führungsrolle zu behalten.

TangoTunes’ erste Golden Ear Reedition TangoTunes hat sämtliche Aufnahmen für diese Reedition von Schellacks mittels professioneller Restaurationstechnik neu transferiert und restauriert – vorwiegend analog, mit möglichst wenig digitalem Firlefanz. Die Schellacks wurden mit größter Sorgfalt technisch korrekt entzerrt. Es wurden keine destruktiven Algorithmen eingesetzt, um die Restaurationen vermeintlich zu verbessern. Es wurde kein Hall verwendet, um handwerklichen Pfusch zu kaschieren. Und der ganze technische Giftschrank der Popmusik musste draußen bleiben.

Dieser Prozess bedingt das Können und die Erfahrung eines Tonmeisters im Team, dessen Tätigkeitsfelder analoge Instrumente und die Klassik sind. Dort heißt die Devise “von Anfang alles richtig machen”, anstatt hinterher zu reparieren und so oft zu verschlimmbessern. Bei Restaurationen von Aufnahmen akustischer Instrumente scheitert jeder andere Ansatz. Von TangoTunes so erstellte Reeditionen werden mit dem Zusatz Golden Ear symbolisch gekennzeichnet.

Heute erwarten viele Konsumenten, welche analoge Tonträger nicht kennen, einen klinisch reinen CD-Sound ohne jegliche Laufgeräusche der Schellackplatte. Da die Laufgeräusche einer Schellack sich aber ein und dasselbe Frequenzspektrum mit dem Musiksignal teilen müssen, ist es auch bei Schellacks in bestem Zustand unmöglich, die Laufgeräusche zu entfernen, ohne Teile des Musiksignals zu zerstören und damit die klangliche Balance zu beschädigen.

Natürlich versprechen die Entwickler von Algorithmen für Restaurationszwecke seit bald zwei Jahrzehnten das Blaue vom Himmel. Nur schaffen sie es bis heute nicht, diese Versprechungen einzulösen.

Entwickelt wurden diese Tools ursprünglich für Militär und Geheimdienste: Abhörtechnik, bei der Sprachverständlichkeit zentrale Forderung ist – nicht Klangqualität mittels minimalinvasiver Algorithmen. Die einzigen Algorithmen, die mit moderat eingestellten Parametern und partiell eingesetzt nicht zuviel Schaden im musikalischen Geschehen anrichten, sind De-Clicker.

Auf vielen TangoTunes Reeditionen der Golden Ear Serie werden daher immer auch Laufgeräusche der Schellackplatte zu hören sein. Sonst klingen Stimmen dünn, Instrumente metallisch, Details gehen unter, und das massiv aufgedickte Klanggeschehen voller Artefakte hat keine Resonanzkörper mehr die natürlich klingen. Dann fehlt der Musik das Fundament und damit die Orientierung für das Ohr. Allerdings vermag nur gute Audiotechnik – analog wie digital – solche Qualitätsrestaurationen wiederzugeben, ohne die Laufgeräusche zu verstärken.

Musikalische Archäologie kann sehr zeitgemäß sein Wo Schellacks in gutem Zustand zur Verfügung stehen, sind die Resultate dieses Golden-Ear-Prozesses mehr als nur erfreulich. Es tauchen musikalische Details aus dem Dunst der Geschichte auf, die viel zu lange verschollen waren.

Zugegeben, der Kontrabass ist immer noch etwas zu schwach auf der Brust. Diese Schwäche des damaligen Setups und der damaligen Technik im Aufnahmestudio lässt sich auch heute nur teilweise kompensieren. Und das auch nur, falls bestes Quellenmaterial zur Verfügung steht. Der Bassaussteuerung jeder Schallplatte sind prinzipbedingte Grenzen gesetzt. Aber die Töne des Kontrabasses haben wieder Kontur bekommen. Das sind gedrehte Saiten und man hört, ob sie gestrichen oder gezupft werden. Der Bass geht im Reigen der Instrumente nicht mehr unter und lässt sich nie mit einer Tuba verwechseln. Und wenn der Bassist die Saiten durch schnelles Drehen des Bogens bis zum Bogenholz plötzlich verstummen lässt, um Tänzern noch mehr Feuer unter dem Hintern zu machen, ist das deutlich zu hören.

Der omnipotente Resonanzboden der Killermaschine Konzertflügel ist wieder erwachsen geworden – unten physisch fühlbar, mittendrin faszinierend präsent und oben schmerzhaft schnell. Wo vom Pianisten gewünscht, wird dieses Instrument wieder zum Tausendsassa von unmittelbarer Urgewalt hin zu subtiler Verführung und bleibt trotzdem ständig resolut-resonante Leitplanke für die ganze Combo.

Die Violine nicht nur des ersten Geigers bekommt endlich jenen beinahe schnupperbaren Resonanzkörper irgendwo zwischen bitterzart gewürzter Doppelsahne und luftig geschlagener Crème fraiche zurück, den Virtuosen aus einem guten Instrument hervorzuzaubern vermögen, um Tänzer dazu aufzurufen es zwischendrin für ein, zwei Doppelphrasen ruhiger angehen zu lassen. Sogar auf der anderen Seite des Stegs gezupfte Pizzicati haben einen Resonanzkörper und man hört, dass da nicht De Caros Strohgeige zugange ist.

Weil das Klangbild der ganzen Combo trotzdem auch dann gertenschlank bleibt, wenn die Post abgeht, trennt die Bandoneon- Sektion immer klar und deutlich von der Violin-Sektion. Weil keine Töne von Algorithmen zu Brei zermalmt werden. Auch wenn unisono musiziert wird, lassen sich die einzelnen Instrumente heraushören. Sogar die Mechanik der Bandoneons wird immer wieder hörbar und ruft uns zu: live, live, live!

Auf Grund des im Studio von RCA Victor in Buenos Aires 1935 verwendeten Setups mit einem Mikrofon – RCAs bidirektionales Bändchenmikrofon BX-44 – haben Kontrabass und vor allem Piano bei diesen frühen Aufnahmen noch nicht jene Präsenz, die Aufnahmen ab 1937 mit mehreren Mikrofonen bieten. Mindestens zwei BX-44 kamen ab 1937 zum Einsatz. Diese Veränderungen sind teilweise ab August 1936 hörbar, lassen sich auf Fotos aus den Aufnahmestudios aber kaum je verifizieren, weil solche Details von den Labels als Betriebsgeheimnis behandelt wurden. Es war noch Jahrzehnte danach üblich, für Fotos die Aufstellung der Mikrofone im Aufnahmestudio zu verändern, damit Konkurrenten keine Schussfolgerungen ziehen konnten.

Endlich kein Tempo “auf Teufel komm raus” mehr Zudem sind sämtliche Transfers von TangoTunes akribisch auf korrektes Tempo gebracht – basierend auf dem damals praktizierten Kammerton von 435 Hz. Dafür zeichnet ein Instrumentenbauer und Musiker im Team verantwortlich. Die Korrekturpräzision liegt bei fünf Cent, was einem Zwanzigstel eines Halbtons entspricht. Dadurch gewinnen diese Aufnahmen nochmals, weil besonders für Tänzer mehr Ruhe einkehrt, da über alle Aufnahmen hinweg ein durchgehendes Fundament vorhanden ist, was unserem Ohr Orientierung ohne ständige Neujustierung schenkt. Damit fällt der musikalische Verlauf ganz von allein an seinen Platz. Denn die bisher weit verbreiteten Tempoverfälschungen – oft zu schnell – verschieben nicht nur den Kammerton, auf den die Instrumente gestimmt waren. Sie verändern – und das ist fatal – auch jenen ureigenen Grundklang, den jedes Instrument unabhängig von momentaner Stimmung und gespielter Tonhöhe ständig ins Spiel einbringt – das individuelle Timbre eines jeden Instruments.

Tänzer mit dem Anspruch Musik zu interpretieren, anstatt vorgefertigte Figuren abzuspulen, werden in vielen dieser Aufnahmen jetzt Details entdecken, die es ermöglichen, diese D’Arienzos subtiler und verspielter, aber auch akzentuierter und stimmiger zu tanzen. Die kompromisslos auf die Bedürfnisse der Tänzer ausgerichtete Spielweise – mit unzähligen Ecken und Kanten an allen Ecken und Enden – verlangt buchstäblich danach.

Dieses Mehr an Tanzspaß liegt schlicht in der Luft, man kann es beinahe riechen. Hören und Stillsitzen ist für in der Wolle gefärbte Tänzer kaum noch möglich, weil manche Muskeln ganz von allein einen Dialog mit der Musik beginnen, während man darüber sinniert, wie man diesen oder jenen Akzent in der Musik tänzerisch umsetzen will und wie es gelingen kann, möglichst viel von diesem neu aufgetauchten Reichtum mit dem ganzen Körper auszudrücken.

Es gibt immer ein Aber mit dem wir leben müssen Wo keine Schellacks in gutem Zustand zur Verfügung stehen, sind die Resultate dieses Golden-Ear-Prozesses vorläufig deutlich schlechter. Sowie es TangoTunes gelingt, von diesen Aufnahmen bessere Schellacks zu beschaffen, werden bessere Restaurationen nachgereicht werden. TangoTunes würde sich sehr freuen, wenn Sammler in aller Welt diesen Hinweis als Aufforderung interpretieren, ihr stilles Kämmerlein zu verlassen und mit TangoTunes zusammenzuarbeiten. TangoTunes ist ständig auf der Suche nach Plattensammlungen die gekauft oder für kurze Zeit gemietet werden können.

Während der Arbeit mit diesen Schellacks hat sich gezeigt, dass deren Qualitäten bei einer Auflösung von 24-bit/96 kHz in der digitalen Domäne wunderbar zur Geltung kommen. Eine Reduktion auf die Auflösung von Red-Book-CDs, 16-bit-dithered/44,1 kHz, verkraften diese Restaurationen erfreulich gut, obwohl dabei ein Stück Authentizität, etwas vom sonoren Reichtum verloren geht.

Eine Datenreduktion mit dem M4A Codec verkraften diese Aufnahmen nur bei Schellacks in gutem Zustand einigermaßen. Bei allen anderen Schellacks – und die werden sich auch in Zukunft nie ganz ausschließen lassen – verstärkt dieser wie alle verlustbehafteten Codices Artefakte und Verzerrungen, Aufnahme- wie Pressfehler und vor allem die über das ganze Frequenzband verteilten Laufgeräusche der Schellackplatte überproportional. Die dabei auftretende Verschlechterung ist markant.

Daher bietet TangoTunes bei Golden-Ear-Kompilationen keine verlustbehaftete Version an. Festplattenplatz ist seit Jahren so günstig, dass verlustbehaftete Audioformate ihre Daseinsberechtigung allmählich verlieren. Wer warum auch immer mit hochauflösenden Daten nicht umgehen kann oder will, findet in der Version mit Red-Book-CD-Auflösung eine bestens funktionierende Alternative, die im Umgang genauso unkompliziert ist wie M4A und alle wichtigen Tags mitnimmt, weil als Datenformat AIFF zum Einsatz kommt. TJs möchte TangoTunes davon abraten, eines der beiden lieferbaren Formate selbst mit einem verlustbehafteten Codec umzuwandeln. Das haben diese Restaurationen nicht verdient.

Der Zahn der Zeit als Innovator Mag sein, dass ein halbes Jahrzehnt vergehen muss, bevor alle qualitätsorientierten TJs und Veranstalter von traditionellen Milongas sämtliche Konsequenzen umgesetzt haben, die sich aus dieser Reedition eines elementaren Teils des Repertoire-Kerns tanzbaren Tango Argentinos zwangsläufig ergeben.

Viele TJs und Veranstalter werden z. B. irgendwann ihre Technik verbessern wollen. Denn so gehört, multipliziert sich das seit jeher exorbitant hohe Suchtpotential von D’Arienzos zweitem Orchester nochmals deutlich.

Ganz egal, ob Ataniche oder El cachafaz, Corazon de artista oder Pasión, La bruja oder Mandria, Don Pacifico oder Por qué razón – so gab es diese Dreiminutenkunstwerke in den letzten Jahrzehnten nirgends zu kaufen. Wer sich die Besten dieser Restaurationen auf potenter Studiotechnik mit Farfield Fullrange Monitoren in Live-Lautstärke anhört, erhält den

Eindruck, mit den Musikern von damals im selben Raum zu sitzen. Nicht nur Biagi und Echagüe, Moro und Mazzeo werden beinahe greifbar im imaginären Raum. Das hat etwas Magisches.

Damit sind wir aficionados zumindest akustisch endlich nicht mehr so weit weg von jener längst obligaten Zeitmaschine, welche ich Jahr für Jahr im Januar beim VW-Händler um die Ecke vergeblich zu bestellen versuche. Natürlich mit der Absicht, sofort eine Probefahrt zu absolvieren – mit den Koordinaten 22. Juni 1938, Buenos Aires Capital Federal. Obwohl, dieses Jahr werde ich den VW-Händler erstmals links liegen lassen. Ich sage nur: Pensalo bien.

Christian Tobler im Januar 2015 für TangoTunes